Arbeitszeugnisse – zwischen Wohlwollen und Beliebigkeit

Bewerbung, Unternehmen

Eins plus eins ist zwei, Heiligabend ist am 24. Dezember und Bayern München gehört zu den Topfavoriten auf den Deutschen Meistertitel. In allen drei Fällen wird es wohl kaum zwei Meinungen geben. Anders sieht es da schon aus, wenn es um die Beurteilung einer Person im beruflichen Umfeld, das heißt, um die Bewertung ihrer Arbeitsleistung geht. Denn die Krux liegt hier darin, dass die Leistung eines Arbeitnehmers heute nur noch selten wirklich objektiv messbar ist. In der Regel geht es um eine mehr oder weniger fundierte, subjektiv geprägte Beurteilung durch Dritte, sprich durch Vorgesetzte und Personalverantwortliche. Kein Wunder also, dass Arbeitszeugnisse als textgewordene Substrate der Bewertung immer wieder Anlass zu müheseligen Verhandlungen, zeitraubenden Wortfeilschereien oder im schlimmsten Fall sogar zu arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzungen geben.

Eine ungeliebte Aufgabe

Fakt ist, alle Arbeitnehmer können in Deutschland von ihrem Arbeitgeber die Ausstellung eines qualifizierten Arbeitszeugnisses verlangen, in dem ihre Leistung und ihr Verhalten am Arbeitsplatz beurteilt werden. Seit 1900 ist dieser Anspruch gesetzlich verankert. Dass diese Form der Prosa nicht unbedingt zu den betrieblichen Lieblingsaufgaben gehört, liegt auf der Hand. Ist sie in der Regel doch ein sicheres Zeichen dafür, dass sich ein bestehendes Arbeitsverhältnis in der Auflösung befindet oder sogar – von welcher Seite auch immer – schon gekündigt wurde. Wozu also noch die ganze Arbeit? Außerdem wissen viele Führungskräfte und Personaler was ihnen blühen kann, wenn Selbst- und Fremdwahrnehmung des scheidenden Mitarbeiters voneinander abweichen. Um der drohenden Fehde zu entgehen, mag es in manchen Unternehmen bereits lieb gewonnene Praxis geworden sein, dem Arbeitnehmer gleich die redaktionelle Kreativarbeit zu überlassen. Mit einer Unterschrift wird dann nur noch der wirklich allerletzte Schlussstrich unter das Kapitel der Zusammenarbeit gezogen. Das Motto: Augen zu und durch. Im Zweifel kann man es sich eben auch ganz einfach machen.

Aussagekraft fraglich

Dass Arbeitnehmer ein großes Interesse daran haben, bei der Beurteilung möglichst gut wegzukommen, liegt in der Natur der Sache. Schließlich geht es ja darum, beim Wettbewerb um die nächste lukrative Stelle, ein richtiges Pfund in die Waagschale zu werfen. Arbeitgeber sind ihrerseits nicht nur der Wahrheit und Vollständigkeit verpflichtet. Das Zeugnis muss auch wohlwollend im Sinne des Arbeitnehmers formuliert sein, damit sein berufliches Fortkommen nicht ungerechtfertigt erschwert wird. Dass Arbeitszeugnisse deshalb keine negativen Bewertungen enthalten dürfen, ist allerdings ein Missverständnis. Sie müssen eben nur begründet und charakteristisch für die gesamte Zeit der Beschäftigung sein. Dennoch, Kritiker stellen die Aussagekraft von Arbeitszeugnissen in Frage, weil sie aus Gründen der Konfliktvermeidung eine Tendenz zu einer zu guten Beurteilung und eine Entwicklung hin zur Beliebigkeit unterstellen. Ein Einwand der nicht ganz ungerechtfertigt erscheint. 

Wort für Wort

Wie auch immer. Während grundsätzliche Diskussionen um die Angemessenheit einer Bewertung im Zweifel unvermeidlich sind, lassen sich Spielräume bei der Textinterpretation weitestgehend vermeiden. Dazu können Zeugnisersteller auf etablierte Standardformulierungen zurückgreifen, die unterdessen auch arbeitsgerichtlich akzeptiert sind. Dass dabei auch grammatikalische Unkorrektheiten in Kauf genommen werden (voll ist ein Absolutadjektiv) – geschenkt. Für Zeugnisempfänger lohnt es sich in jedem Fall genauer hinzugucken. Was steht zwischen den Zeilen geschrieben? Wie ist dieser oder jener Begriff zu interpretieren? An welcher Stelle findet sich versteckte Kritik? Welcher Note entspricht eine bestimmte Formulierung? Wer sich aus gegebenem Anlass mit derlei Fragen beschäftigen muss, kann unzählige Quellen nutzen, die dabei helfen, den nicht mehr ganz so geheimen Code der Zeugnissprache zu entschlüsseln.     

Noch ein abschließender Gedanke. Wenn ohnehin auf Standardformulierungen zurückgegriffen wird, warum tut man es nicht Grundschulen gleich und führt gleich Ankreuzzeugnisse ein. Kurz, knapp und schön übersichtlich. Alles Wesentliche auf einen Blick.

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